Zeitzeug*innen der Zukunft. Geschichten der Deutschen von Morgen
Das Projekt „Zeitzeug*innen der Zukunft. Geschichten der Deutschen von Morgen“ ist ein Gedichte-Projekt, das Menschen mit und ohne Fluchterfahrung dabei helfen soll, ihre Erlebnisse und Gedanken durch Poesie auszudrücken. Das Projekt soll vor allem dazu dienen, den Stimmen der Menschen Gehör zu verschaffen, über die oftmals nur gesprochen und denen weniger zugehört wird. Durch das Projekt soll eine Brücke zwischen den Menschen mit Fluchterfahrung und den hier aufgewachsenen Menschen geschaffen werden.
Warum habt ihr das Projekt ins Leben gerufen?
Bereits 2015/16, als Hunderttausende Menschen aus Kriegsgebieten nach Deutschland kamen, insbesondere unbegleitete minderjährige Geflüchtete, dachten ein paar Freund:innen in Berlin darüber nach, wie die Geschichten dieser Menschen Raum in der Aufnahmegesellschaft finden könnten. Denn in der deutschen Mehrheitsgesellschaft wird oft über sie berichtet, aber selten hören wir von ihnen selbst. Projektinitiatorin und SPIEGEL-Auslandskorrespondentin Susanne Koelbl hatte bei ihren Reisen durch Afghanistan immer wieder die Bedeutung der Lyrik als alltägliche Erzählform erfahren – Die Poesie als Brücke war daher ein guter Anfang. Dinge, die zunächst unsagbar scheinen mögen, werden in ein kunstvolles Gespräch verwandelt, umgekehrt bildet sich Verständnis für das scheinbar „Fremde“. Aus diesem Ansatz, jungen Geflüchteten mithilfe von Gedicht-Workshops und Lesungen eine Plattform zu geben, wurde 2017 das Poetry Project.
Im Mai 2023 hat sich The Poetry Project mit dem PEN Berlin zusammengetan, um Zeitzeug*innen der Zukunft zu organisieren, ein neues Dialogprojekt, bei dem unsere jungen Poet:innen von professionellen Autor:innen begleitet werden – ohne wie auch mit eigener Flucht- oder Migrationsgeschichte. Geschrieben wird mittlerweile auf Arabisch, Kurdisch, Persisch und Ukrainisch. Was erhoffen sich junge Geflüchtete in Deutschland? Was erleben sie hier, in der Schule, auf der Arbeit, in ihren Beziehungen? Wie erleben sie die Menschen, die hier aufgewachsen sind? In einem mehr als bloß physischen Sinne ankommen in Deutschland können sie erst, wenn sie ihre Stimme im gesellschaftlichen Diskurs erheben und wenn sie in diesem vielstimmigen Chor auch gehört werden. Dazu gehört neben der politischen Teilnahme auch, dass sie an jenen Erzählungen mitschreiben, die Identität stiften und die Gesellschaft zusammenhalten. Der lebendige Austausch zwischen hier Aufgewachsenen und Zugewanderten entschärft Spannungen. Gleichzeitig entsteht ein einzigartiges Dokument der jüngsten Flucht- bzw. Migrationsgeschichte.
Wie läuft das Projekt ab?
„Es ist schwer, eine Fluchtgeschichte hinter sich zu haben“, berichtete die Syrerin Rojin Namer 2019 dem Magazin Neu in Deutschland, „Ich finde nur selten jemanden, der offen darüber redet. Auch ich kann meine Gefühle nicht aussprechen. Ich kann sie nur auf ein Blatt Papier bringen und dann vortragen.“
In unseren Workshops wollen wir jungen Menschen mit Fluchthintergrund einen Raum bieten, in dem sie sich über ihre Erfahrungen austauschen können, im Schutzraum der Poesie. Begleitet werden sie dabei von professionellen Autor:innen, Lektor:innen und Übersetzer:innen, die kreative Impulse geben und ihren Schreibprozess begleiten. Fast jedes Wochenende begrüßen wir unsere poetischen Gäste in unseren Räumlichkeiten in Berlin-Mitte, geschrieben wird auf Arabisch, Kurdisch, Persisch und Ukrainisch.
Die entstehenden Texte sammeln wir und veröffentlichen sie auf unserer multilingualen Website. Außerdem gestalten wir regelmäßig öffentliche Lesungen in ganz Deutschland, bei denen die jungen Poet:innen ihre Texte in ihrer Muttersprache vortragen, die deutschen Übersetzungen werden von professionellen Sprecher:innen gelesen. So wollen wir ihre Perspektiven, ihre Geschichten und Stimmen hörbar machen und in die Öffentlichkeit tragen. Zudem möchten wir das Publikum zum Austausch anregen und anhand dieses Dialogs demokratische Kräfte stärken – denn gegenseitiges Verständnis entsteht vor allem dort, wo sich Menschen offen über ihre Vorstellungen, Gefühle und Erfahrungen verständigen.
Was braucht ihr, damit das Projekt gelingt? Wo liegen mögliche Herausforderungen?
Grundsätzlich arbeiten wir mit einer Zielgruppe, die nicht ganz leicht zu erreichen ist und für die die regelmäßigen Termine mitunter schwer wahrzunehmen sind. Neben ihrem schulischen bzw. Arbeitsalltag müssen unsere Poet:innen die deutsche Sprache lernen, Termine bei der Ausländerbehörde wahrnehmen, ggf. ihren Familiennachzug vorantreiben, mit Gefühlen von Einsamkeit, Verlust, Angst umgehen. Deswegen müssen wir immer wieder auf sie zugehen, viel Motivations- und Beziehungsarbeit leisten. Zudem stellen sich durch aktuelle Ereignisse im Weltgeschehen, wie Krisen, Kriege und das aktuelle gesellschaftliche Klima in Deutschland, immer wieder neue Themen, Herausforderungen und Ängste bei unseren jungen Schreibenden ein, die sich nicht vorhersehen lassen. Daher ist es häufig nicht möglich, unsere Projektvorhaben strikt nach Plan durchzuführen, sondern gemeinsam müssen wir uns auf stets wechselnde Situationen und Stimmungen einstellen. Dafür sind Geduld, Flexibilität und Kreativität von grundlegender Wichtigkeit.
Was habt ihr aus dem Projekt gelernt?
Es ist vielleicht keine ganz neue Erkenntnis, aber es zeigt sich immer wieder: Fluchtgeschichten sind sehr vielfältig, genau wie die individuellen Menschen hinter ihnen und ihre persönlichen Schicksale sehr vielfältig sind. In den Medien wird sehr viel über Menschen mit Fluchthintergrund berichtet, aber häufig bleiben sie Zahlen, eine gesichtslose Einheit, und kommen selten selbst zu Wort. Wenn unsere jungen Poet:innen dagegen in der Öffentlichkeit mit ihren Geschichten auftreten, dann macht das sehr viel mit dem Publikum. Viele reagieren sehr emotional, sind überwältigt vom Gehörten, auch wenn sie sicherlich schon viel über Kriege und Krisen in den Nachrichten gelesen, gehört und/oder gesehen haben. Der unmittelbare Zugang über die autobiografische Poesie ermöglicht eine zwischenmenschliche Verbindung, die wiederum die Basis für einen tiefgreifenden Austausch legt.
Die Fragen beantwortete/n:
Video-Interview:
Susanne Koelbl (Projektgründerin), Levke Nissen (Teamleitung), Theresa Rüger (Teamleitung), Shazamir Hataki (Poet/Teammitglied)
Schriftliches Interview: Levke Nissen & Theresa Rüger (Projektleitung)