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Von der Ausländerpädagogik über die interkulturelle Pädagogik zur Migrationspädagogik

Warum Theorie wichtig ist

Die Beschäftigung mit den Themen Rassismus und Migration in der Pädagogik hat sich in den zurückliegenden Jahrzehnten verändert. In diesem Artikel werden unterschiedliche Zugänge und die dahinterstehenden Annahmen vorgestellt und auch kritisch beleuchtet. Denn das Nachdenken über die Motivation hinter pädagogischem Handeln kann helfen, Maßnahmen einzuordnen und das eigene Handeln zu reflektieren.
Deshalb geht es in diesem Artikel darum zu erfahren, was für die jeweiligen Zugänge typisch ist, auch wenn sie nicht immer klar voneinander abgegrenzt werden können. In der Realität gibt es kein klares Entweder-oder, sondern auch immer Überschneidungen und Mischformen.

Die Ausländerpädagogik

Die Ausländerpädagogik entstand zu Beginn der 70er Jahre 1(vgl. Mecheril et al. 2010: 56). Sie richtete sich zunächst an als ›Gastarbeiterkinder‹ bezeichnete und dann ab den 80er Jahren an als ›Ausländerkinder‹ bezeichnete Kinder und Jugendliche. Kennzeichnend für die ausländerpädagogische Haltung ist die Wahrnehmung dieser Kinder als defizitär und als Störfaktor für den vermeintlich normalen Ablauf in Bildungseinrichtungen.

Die ausländerpädagogischen Ansätze verfolgten zwei Ziele. Erstens die Integration der Kinder in die deutsche Gesellschaft. Integration wurde allerdings in erster Linie als Leistung betrachtet, die nur einseitig von den Kindern und Jugendlichen erbracht werden müsse. Die Notwendigkeit auch bestehende Gesellschaftsstrukturen, die zu ungleichen Chancen führen, zu ändern, wurde nicht gesehen. Zweitens sollte aber auch der ›Rückkehrwillen‹ und die ›Rückkehrfähigkeit‹ erhalten werden. Dazu wurde beispielsweise in Schulen außerhalb der normalen Unterrichtszeit die jeweilige Muttersprache unterrichtet 2(vgl. Linnemann et al. 2016: 65). Der defizitäre Blick beschränkte sich dabei nicht nur auf die Kinder und Jugendlichen und deren Fähigkeiten, sondern betraf auch deren familiäres Umfeld. Führten die ausländerpädagogischen Ansätze nicht zum gewünschten Erfolg, wurde dafür das familiäre Umfeld und eine angeblich ›ganz andere‹ Kultur verantwortlich gemacht, die den Kindern und Jugendlichen schade3 (vgl. Linnemann et al. 2016: 66f.).

Die ausländerpädagogischen Ansätze drängten vor allem auf die Anpassung und das Sich-Einfügen in die deutsche Mehrheitsgesellschaft. Hintergrund dafür war unter anderem das nationalstaatliche Selbstverständnis, in dem Deutschland nicht als Einwanderungsland gesehen und gesellschaftliche Vielfalt in Bezug auf Sprache, Religion und Kultur geleugnet wurde.

Kritik an den ausländerpädagogischen Ansätzen

Mit den unten genannten Argumenten wurden und werden die ausländerpädagogischen Ansätze vielfach kritisiert:

  • Einzig die so genannten ›Ausländer:innen‹ haben sich anzupassen, Strukturen in Bildungseinrichtungen werden nicht kritisch in den Blick genommen. Kinder und Jugendliche werden für gesellschaftliche Schieflagen verantwortlich gemacht.
  • Es wird von strukturellen, sozialen Problemen wie prekären Arbeitsverhältnissen und Diskriminierung abgelenkt. Stattdessen werden die Folgen, die daraus resultieren als pädagogische Probleme betrachtet.
  • ›Die Ausländer‹ werden ›den Deutschen‹ gegenübergestellt. Diversität innerhalb der Gruppen wird völlig ausgeblendet. Man kann nur zur einen oder zur anderen Gruppe gehören. Unterschiede werden betont, Gemeinsamkeiten ausgeblendet.
  • Formate, in denen Kinder nach Herkunft und Zugehörigkeit getrennt werden,  erschweren die Integration. Den Kindern und Jugendlichen werden von vornherein Defizite unterstellt.
  • Rassismus und systematische Benachteiligung werden nicht thematisiert. Kompetenzen, wie beispielsweise Mehrsprachigkeit, werden nicht gewürdigt.

Die interkulturelle Pädagogik

Die Interkulturelle Pädagogik entstand zu Beginn der 80er Jahre im Zuge der Kritik an den Ausländerpädagogischen Ansätzen 4(vgl. Mecheril et al. 2010: 56f.). Die Kernidee war, dass die Schuld für Konflikte in der Migrationsgesellschaft nicht einfach Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund und ihren Familien zugeschoben werden kann. Stattdessen werden nicht zu vereinbarende kulturelle Unterschiede als Ursache gesehen. Dementsprechend zielt die Interkulturelle Pädagogik auf die Erziehung aller Gesellschaftsmitglieder, sowohl der als ›kulturell anders‹ Markierten als auch der als ›einheimisch/deutsch‹ verstandenen Kinder und Jugendlichen. Kulturelle Vielfalt wird dabei als Bereicherung verstanden 5(vgl. Mecheril et al 2010: 57).


Hinter diesem Vorgehen stehen bestimmte Ideen darüber, wie die Gesellschaft funktioniert. Einerseits die Idee, dass Kultur eine wichtige Rolle spielt und jedes Land, Ethnie oder Religion eine eigene abgrenzbare Kultur hat, die die Menschen klar voneinander unterscheidet.  Andererseits die Idee, dass ein gelungenes Zusammentreffen verschiedener Kulturen Wissen übereinander braucht und die Gesellschaftsmitglieder interkulturelle Kompetenzen ausbilden müssen. So soll durch ein pädagogisch angeleitetes interkulturelles Lernen ein harmonischeres Zusammenleben in einer multikulturellen Gesellschaft angeregt werden.

Kritik an Ansätzen der interkulturellen Pädagogik

Diese Vorstellungen über das Zusammenleben in der Migrationsgesellschaft wurden vielfach kritisiert 6(vgl. Mecheril et al. 2010: 62f.):

  • Die Überbetonung von Kultur: Kultur wird als ein zentrales Unterscheidungsmerkmal gesetzt. Alle Unterschiede zwischen Menschen und deren Lebenssituation werden mit deren Kultur begründet. Die Zugehörigkeit zu einer Kultur wird immer wieder thematisiert und so Menschen in verschiedene Gruppen eingeteilt. Innerhalb dieser kulturellen Gruppen erscheinen alle Mitglieder dann gleich, weil sie ja vermeintlich die gleiche Kultur teilen (Homogenisierung).
  • Inseldenken: Kulturen werden als klar abgrenzbar und nicht veränderbar angesehen, so wie Inseln. Überschneidungen und gesellschaftlicher Wandel werden ausgeblendet. Es werden klare Linien zwischen der eigenen und anderen Kulturen gezogen.
  • Ausländerpädagogik durch die Hintertür: Auch wenn in der interkulturellen Pädagogik eigentlich alle Kulturen gleich viel wert sind und sich auf Augenhöhe begegnen sollen, wird der Begriff nur gebraucht, wenn es um Migrant:innen, Menschen mit Migrationshintergrund oder People of Color geht. Damit wird unterstellt, dass diese Menschen automatisch eine andere Kultur haben, fremd sind und es deshalb besonderen pädagogischen Handlungsbedarf gäbe. So werden Menschen immer wieder zu ›Anderen‹ gemacht.
  • Auf diese Weise wird der Begriff ›Kultur‹ auch schnell zu einem Sprachversteck für Rassenkonstruktionen. Denn statt nach körperlichen Merkmalen werden die Menschen nach Kulturen eingeteilt. Wenn dann Kultur als etwas Starres, Unveränderbares verstanden wird, wird nicht mehr der einzelne Mensch wahrgenommen, stattdessen werden ihm direkt bestimmte Eigenschaften zugeschrieben.
  • Nicht-Thematisierung von Rassismus und Machtverhältnissen: Menschen sollen sich unter dem Leitmotiv begegnen, dass alle Menschen gleich sind, ungeachtet ihrer Herkunft. Rassismus und vor allem struktureller Rassismus werden dabei nicht mitgedacht. Andere Gründe für Unterschiede als Kultur, wie z. B. die rechtliche und finanzielle Situation, werden nicht in den Blick genommen. Das individuelle Handeln wird betont, viele Probleme können aber nicht auf der individuellen Ebene gelöst werden.

›Interkulturell‹ als Sammelbegriff

Zahlreiche Organisationen, Projekte und Initiativen, die in ihren Selbstbezeichnungen Ableitungen des Begriffs ›Interkulturalität‹ (z.B. Interkulturelle Pädagogik, Interkulturelle Öffnung, Interkulturelles Lernen, Interkulturelle Bildung, Interkulturelle Kompetenz etc.) führen, legen jedoch in ihrer Arbeit rassismus-, diskriminierungs- und machtkritische Standards zugrunde. Sie thematisieren den problematischen Kulturbegriff und passen den Kulturbegriff entsprechend an. Zunehmend gehen Organisationen auch dazu über, ihre rassismus-, macht- bzw. diskriminierungskritische Perspektive nach außen zu tragen und ihre Ansätze (teilweise parallel zum Begriff Interkulturalität) anders zu benennen.

Auf einen Blick

Die Unterschiede zwischen Ausländerpädagogik, interkultureller Pädagogik und Migrationspädagogik auf einen Blick.
Die Unterschiede zwischen Ausländerpädagogik, interkultureller Pädagogik und Migrationspädagogik. Quelle: Linnemann et al. 2016 S. 65, eigene Darstellung.

Die Migrationspädagogik

Die Migrationspädagogik wendet sich gegen die oben beschriebene, angeblich natürliche Einteilung in ›die Einen‹ und ›die Anderen‹. Stattdessen analysiert und kritisiert sie genau diese Unterscheidungspraxen. Geprägt wurde der Begriff Anfang der 2000er Jahre von Paul Mecheril. Er geht davon aus, dass Macht in Gesellschaften verhandelt wird, indem Bilder und Erzählungen (Narrative) über Menschen verbreitet werden 7(vgl. Mecheril 2016). Dazu gehören Fragen wie: Wer gehört dazu? Wer hat welche Rechte? Was gilt als normal? Wer darf mitbestimmen?

Das lange vorherrschende Bild in Deutschland war dabei, dass es ein homogenes Land ist, in dem alle die gleiche Sprache sprechen, die gleiche Religion und Kultur haben. Migration hieß dann vor allem die Einwanderung von Menschen, die dazukommen, aber Deutschland nicht verändern, sondern sich anpassen sollten (siehe Ausländerpädagogik). Die Interkulturelle Pädagogik wollte die Abwertung der vermeintlich Anderen beenden, ihr lag aber trotzdem das Bild grundsätzlicher unvereinbarer Unterschiede zu Grunde. Aber was ist, wenn beim Interkulturellen Mittagsessen in der Kita alle ihre Lieblingsgerichte mitbringen sollen, das Lieblingsgericht von Mohammed ist aber Schnitzel und das von Emma Falafel? Was ist, wenn Menschen sich nicht nur zu einem Land, einer Kultur oder einer Tradition zugehörig fühlen, sondern zu mehreren oder zu keinem?

Die Migrationspädagogik möchte diese Mehrfachzugehörigkeiten berücksichtigen. Sie fragt danach, wie Unterschiede zwischen Menschen hergestellt werden und wie daraus Ungleichbehandlungen entstehen. Dabei wird auch die Rolle von Pädagog:innen kritisch in den Blick genommen und analysiert, wie sie zur Ungleichbehandlung beitragen. Die Abwertung von vermeintlich Anderen wird nicht als randständiges Verhalten von Einzelnen verstanden, sondern als Rassismus und somit auch als strukturelles Problem.

Ziele der Migrationspädagogik

Vor diesem Hintergrund verfolgt die Migrationspädagogik mehrere Ziele 8(vgl. Mecheril 2016):

  1. Das Verstehen der Mechanismen, die Menschen zu ›Anderen‹ machen
  2. Das Hinterfragen und Kritisieren von entsprechenden Zuschreibungen
  3. Die kritische Betrachtung von pädagogischen Settings
  4. Die Anerkennung und Thematisierung von Rassismuserfahrungen
  5. Räume für progressive Entwicklungen schaffen

Das Anliegen der Migrationspädagogik ist jedoch nicht, Patentrezepte anzubieten. Vielmehr geht es darum eine kritische, achtsame und wertschätzende Haltung zu entwickeln, in dem Bewusstsein darüber, selbst in rassistische Machtverhältnisse verstrickt zu sein 9(vgl. Linnemann 2016: 71).


Zum Weiterlesen:


Quellen

Linnemann, Tobias/Wojciechowicz, Anna Aleksandra/Yiligin, Fidan (2016): Vom Defizitblick über Differenzdenken zur Machtkritik – Ein Blick auf pädagogische Konzepte in der Migrationsgesellschaft. In: Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit in Nordrhein-Westfalen (IDA-NRW) (Hg.): Kinder- und Jugendarbeit zu rassismuskritischen Orten entwickeln. Düsseldorf, S. 65-71.

Mecheril, Paul/Castro Varela, Maria do Mar/Dirim, Inci/Kalpaka, Annita/Melter, Claus (2010): Migrationspädagogik, Reihe Bachelor l Master. Weinheim: Beltz.   

Mecheril, Paul (2016): Migrationspädagogik – ein Projekt. In: Mecheril, Paul (Hg.): Handbuch Migrationspädagogik. Weinheim, S. 8-30.