Rechtsextremismus: Einstiege und Ausstiege
Schwerpunktheft der Zeitschrift "Interventionen. Zeitschrift für Verantwortungspädagogik" (2013:2)
Inhalt
In seinem Aufsatz „Unbeirrbar. Gesinnungsradikalismus im Rechtsextremismus“ geht Rainer Erb der Frage nach, was die rechtsextreme Szene zusammenhält. Er beruft sich dabei auf Interviews mit sechs Führungspersonen aus rechtsextremen Gruppierungen sowie auf die Auswertung von Dokumenten aus dem Internet. Er macht dabei vor allem drei Faktoren aus, die prägend für informelle rechtsextreme Gesinnungsgemeinschaften sind. Zum einen betrifft dies die weltanschauliche Überzeugung und deren Gesinnungsmilitanz. Aus einer Selbststilisierung zum unterdrückten Opfern wird das Recht auf Widerstand und Notwehr abgeleitet. Staatliche Repression fungiert hierbei als Beleg für diese Selbstwahrnehmung. Somit wird deutlich, wie die juristische Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus die Gesinnung eher stärkt als schwächt. Die Gruppe rückt enger zusammen, je konsequenter soziale Ächtung und strafrechtliche Verfolgung sind. Der zweite Faktor ist der soziale Zusammenhalt der Gruppe. Die Gruppe vermittelt dem Einzelnen ein Zugehörigkeitsgefühl und macht Deutungsangebote. Gruppen geben Meinungen und Handlungsmodi vor und bilden eine Gegenwelt aus eigener Sprache, eigenem Stil und eigenen Ritualen. So vollzieht sich ein Prozess der sozialen Desintegration bei gleichzeitiger subkultureller Integration. Als dritter Faktor wird der Einfluss der Führungsfiguren erläutert. In informellen Gruppen spielen diese sich durch aktives Vorgehen und entschlossenes Handeln selbst die Führungsrolle zu. Durch Führungsfiguren wird aus der „Freizeitclique“ eine ziel- und aufgabenorientierte Tatengemeinschaft. Der Mehrwehrt für die Geführten liegt darin, dass sie aus der Notwendigkeit, Entscheidungen zu treffen, entlassen werden.
Das Bild vom Funktionieren rechtsextremer Gruppierungen wird durch ein Gespräch mit einem Aussteiger aus einer Rechtsrockband ergänzt. Dieser beschreibt, wie die Selbstwahrnehmung als politisch Verfolgte durch reale staatliche Repression genährt wird. Diese Selbstwahrnehmung rechtsextremer Gruppierungen ist durch Opferrolle und Märtyrertum für ein vermeintlich höheres Ziel geprägt. Musik fungiert als „Einstiegsdroge“ für Radikalisierungsprozesse. Ideologie wird jedoch auf subtilere Weise vermittelt, als dies in der stereotypen Wahrnehmung eines dumpfen Rechtsrocks vermutet wird. Aus eigenem biografischen Erleben heraus schildert er die Schwierigkeiten, sich aus der Szene zu lösen. Auslösendes Moment war ein erlebter innerer Widerspruch bei der Geburt seines Kindes.
Thomas Mücke beschreibt in seinem Aufsatz „Radikalisierung als biografisches Phänomen“, wie soziale und familiäre Desintegrationserfahrungen verbunden mit geringen Akzeptanzgefühlen und problematischen Gruppendynamiken als Motor für Radikalisierungsprozesse fungieren können. Rechtsextremen Gewalttätern ist der Zusammenhang zwischen ihrer Lebensgeschichte, zwischen der erlebten Vernachlässigung, Verunsicherung, Demütigung und Gewalt und den eigenen Gewalthandlungen oftmals nicht bewusst. Die eigene Gewaltausübung als Wechsel von der Opfer- in die Täterrolle ist Teil eines Verdrängungsprozesses. Dabei spielen die erlernten, die Gewalt legitimierende Wahrnehmungsmuster ebenso eine Rolle wie Gewaltmythologien. Damit ist gemeint, dass der Wechsel von der Opfer- in die Täterrolle als eine Art Erweckungserlebnis fungiert. Somit knüpft ein Gewalttäter hohe Anerkennungserwartungen an zukünftige Gewalthandlungen. Mücke diskutiert, wie diesem Prozess durch Beziehungs- und Biografiearbeit begegnet werden kann. Dabei wird mit den Betroffenen in Rekonstruktion der eigenen Geschichte die Fähigkeit erarbeitet, das eigene Handeln selbst zu steuern.
Michail Logvinov stellt in einem Aufsatz sozialwissenschaftliche Interpretationen von Radikalisierungsprozessen in rechtsextremen Milieus vor. Ergänzt wird das Schwerpunktheft zudem durch Reflexionen zu Blutmetaphern (nicht nur) im Vokabular Rechtsextremer sowie zur Sinnigkeit eines NPD-Verbotsverfahren.